Erinnerungsbüro
Ich bin Zuhörer.
Ich brauche Zeit.
Ich führe Gespräche. Ich stelle Fragen zu Lebensgeschichten und höre zu. Ich bin Empfänger. Und ich bin Sender. Ich reagiere auf die Erzählung und beginne von mir selbst zu erzählen. Ich muss senden, damit mein Gesprächspartner weiter sendet. Das ist nichts Aussergewöhnliches. Es ist natürlich, aber es ist selten geworden. Weil es Zeit braucht – und eine Form, damit aus einem Reden wirklich ein Erzählen wird, und daraus eine Geschichte, die das Gegenüber erreichen und in ihm etwas auslösen kann.
Ich habe in fünf Jahren mit bald dreihundert Menschen darüber gesprochen, was sie vom Leben ihrer Grosseltern wissen. Und seit etlichen Monaten frage ich Freunde und Unbekannte, wie sie erwachsen wurden und was sie im Jahr, als sie 21-jährig wurden, erlebten. Was sie sich damals erträumt hatten, und wie sie heute auf diese Zeit zurückblicken.
Dorothé erzählte mir von 1976, Frau Winterstein von 1945 und Monsieur Ndizeye von 1995.
Sie alle wissen, dass 1993 für mich ein enorm prägendes Jahr war und dass ich mich noch jetzt nicht ganz zu den Erwachsenen zähle. Aber nun muss ich verschwinden. Ich schneide meine Stimme heraus. Ich beginne zu komponieren – und wenn es gelingt, können meine Gesprächspartnerinnen die wildfremden Besucher meiner Arbeiten in intensive Zuhörer verwandeln. Wenn es gelingt, entsteht eine Konzentration, die zu Wesentlichem führt: zur Imagination und zur eigenen, ganz persönlichen Geschichte.
Wenn es gelingt, ist es ein Glück.
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Credits
Aktuell: Gespräche in Brighton, Woodchurch, Freiburg, Johannesburg und Groningen für das Langzeitprojekt «21» (Oktober 2015 – Mai 2016)
«This is the transcendent aspect of the project: it breaks the boundaries of race, class and culture and it allows people who have grown up in disparate parts of the world and sometimes in vastly different circumstances to feel a deep connection with another human being.»
Passagen 1/2015
«Die Leute reden, Mats Staub hört zu. Mit seinen Gesprächskunstprojekten, mit denen er seit acht Jahren ein internationales Publikum von Bern bis St. Petersburg begeistert, archiviert er Erinnerungen. Nicht Prominenz, Drama und Anekdoten interessieren ihn, sondern das Unscheinbare und die Zwischentöne. Interessant wird es für ihn dann, wenn jemand das zusammenpuzzelt, was noch nicht durch hundertmaliges Erzählen abgeschliffen ist.Staub spürt den feinen Fäden zwischen Biografie und Zeitgeschichte, Biografie und Ort nach. Er beginnt ein Projekt jeweils mit einer Frage, die ihn persönlich um- treibt: Wieso weiss ich so wenig über meine Grosseltern? Gibt es einen Punkt, an dem ich erwachsen geworden bin? Dann sucht er seine Gesprächspartner, wählt Frageformate und Gesprächsort. Die Enkel in «Meine Grosseltern» sitzen zum Beispiel im alten Sessel seiner eigenen Grossmutter, die er nie gekannt hat.»